Ein Expeditionsbericht
Irgendwann erwischt es jeden von uns: Nicht endende Hustenanfälle, Fieberschübe oder einfach nur ein leidvolles Ziehen im rechten Bein. Ein Arztbesuch wird unvermeidlich – und damit beginnt der Abstieg in gesellschaftliche Abgründe, die selbst der erfahrenste Anthropologe nicht hätte vorhersehen können.
Evolution des Homo Wartens
Es ist geradezu erschütternd zu beobachten, wie schnell die menschliche Würde im Wartezimmer kollabiert. Nur ungern denke ich an die letzten Besuche zurück, doch ich muss es! Kaum betrete ich diesen Raum des Wartens, beginnt meine subtile Transformation: Meine Wirbelsäule krümmt sich in einen unnatürlichen Bogen, der genau der ergonomischen Katastrophe namens »Wartezimmerstuhl« entspricht. Zusätzlich verlangsamt sich meine Atmung, mein Stoffwechsel fährt herunter. Der Körper bereitet sich instinktiv auf einen langen Winterschlaf vor – ein evolutionärer Schutzmechanismus, den die Medizin bislang sträflich ignoriert hat. Vermutlich ist dies dieselbe Körperreaktion, die unsere Vorfahren vor dem Säbelzahntiger rettete: erstarren und beten.
Der Wartezimmerblick entsteht
Im Laufe der folgenden Stunden beobachte ich, wie sich das Erscheinungsbild der Wartenden verändert. Die Gesichtszüge werden starrer, die Augen glasiger. Der berühmte »Wartezimmerblick« ist eine Mischung aus Resignation und leiser Hoffnung, die nur durch das gelegentliche Aufblitzen von Neid unterbrochen wird, wenn jemand anderes aufgerufen wird. Selbst die Körperhaltung spricht Bände… je länger die Wartezeit, desto tiefer sinken die Patienten in sich zusammen, als wollten sie in den unbequemen Kunststoffsitz eintauchen und mit ihm verschmelzen.
Territoriale Kampfzone entsteht
In den sterilen, weißen Wartebereichen zeigt sich das menschliche Territorialverhalten in seiner reinsten Form. Wenn ich ein Paket Taschentücher auf dem Nachbarstuhl platziere, erschaffe ich eine unsichtbare Barriere, wirksamer als jede Duftmarke, die Hunde im Park hinterlassen. Nicht selten wird auch die extra mitgebrachte verschlissene Jacke zum symbolischen Schutzwall, der das persönliche Mikroterritorium von exakt 60 × 60 Zentimetern Sitzfläche plus Armlehne unmissverständlich abgrenzt.
Jagd nach Lesematerial
Irgendwann nehme ich die Zeitschriftenauswahl ins Visier und entdecke die einzig vernünftige Ausgabe eines »Gesundheitsratgebers« von 2018 in der Hand eines Anwesenden. Mit methodischer Präzision wird mein Vorhaben geplant: Es gibt dieses kleine Zeitfenster, wenn diese Person aufgerufen wird und die Ausgabe auf den Berg von Altpapier zurücklegen will. Wie ein Adler greife ich hier sofort zu, noch bevor die Zeitschrift den Papierstapel erreicht, und sichere mir den sozialen Status für die nächsten dreißig Warteminuten. Die anderen müssen sich mit verstaubten Golfmagazinen und Wohnmagazinheften aus der Ära Helmut Kohl begnügen.
Selektive Taubheit
Auffällig ist auch das kollektive Weghören: Wenn jemand einen heftigen Hustenanfall hat, widmen sich plötzlich alle intensiv ihren Smartphones. Statt dieser gespielten Ignoranz wäre ein einfaches »Kann ich Ihnen ein Wasser holen?« doch angemessener. Dieses Verhaltensmuster zeigt sich übrigens auch in vollen Bussen und Bahnen.
Öffentliche Einsamkeit
Immer wenn ich die Zeit in einem Wartezimmer totschlage, studiere ich die rätselhafte Anordnung der Sitzgelegenheiten. Es scheint fast, als folge sie einem geheimen Code, den ich dann zu entschlüsseln versuche. Die Stühle sind so positioniert, dass zwar jeder jeden im Blick hat, aber niemand entspannt mit seinem Nachbarn plaudern könnte, ohne gleich den ganzen Raum zur unfreiwilligen Zuhörerschaft zu machen. Diese raffinierte Meisterleistung erzwingt eine Art »öffentliche Einsamkeit«, in der alle zusammen und doch völlig isoliert existieren – ein Mikrokosmos moderner Gesellschaftsstrukturen, verdichtet auf zwanzig Quadratmeter und mit dem Soundtrack plätschernder Entspannungsmusik unterlegt.
Die geheime Hierarchie
In unseren deutschen Wartezimmern hat sich ein unausgesprochenes Klassensystem etabliert, brutaler als jede mittelalterliche Ständeordnung. Da spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Allgemeinarzt oder einen Orthopäden handelt – es ist immer das Gleiche:
An der Spitze stehen jene mit sichtbaren Verletzungen – der Arm im Gips verleiht unbestreitbare Autorität. Diese Menschen dürfen seufzen, ohne dass ihnen verächtliche Blicke zugeworfen werden.
Darauf folgen chronisch Kranke mit dem resignierten Blick von Stammgästen. Sie nicken der Sprechstundenhilfe zu wie einem alten Kriegskameraden.
Am unteren Ende rangieren jedoch jene mit diffusen Symptomen, die den verhängnisvollen Fehler begehen, diese ungefragt mitzuteilen. »Es ist so ein ziehender Schmerz, wissen Sie, mal hier, mal dort…« – wer solche Sätze von sich gibt, wird meist von der Gemeinschaft der Wartenden ausgeschlossen. Die anderen scheinen zu befürchten, dass ein einmal begonnenes Gespräch über wandernde Beschwerden kein Ende finden könnte.
Doch die wahre Hierarchie wird erst deutlich, wenn ein Privatpatient den Raum betritt und nach genau 153 Sekunden wieder verschwindet. Die kollektive Verbitterung könnte in diesem Moment Batterien aufladen.
Der unfreiwillige Held
Einmal ereignete sich etwa zur dritten Stunde im Wartezimmer-Fegefeuer bei meinem Hausarzt, der übrigens prinzipiell niemanden auf Termin bestellt, ein kultureller Höhepunkt von bemerkenswerter Spontaneität. Ein grauhaariger Herr mit karierter Hose, der bislang nur durch sein rhythmisches Knieschlackern aufgefallen war, wird unfreiwillig zum Protagonisten eines surrealen Spektakels. Neben ihm kapituliert der seit 1987 nicht mehr gewartete Zeitschriftenständer unter dem Gewicht jahrzehntealter »Apotheken Umschau«-Ausgaben und ergießt seinen papiernen Inhalt über die Schuhe des Mannes.
Improvisierte Handwerkskunst
Was folgt, ist ein Meisterwerk improvisierter Handwerkskunst. Mit der Präzision eines pensionierten Ingenieurs und der Verzweiflung eines Menschen, der weiß, dass er ohnehin noch mindestens 45 Minuten hier festsitzen wird, beginnt er, den Ständer zu reparieren. »Man nehme zwei Kugelschreiber und ein Paar Lesebrillenbügel«, erklärt er dem gesamten Raum, obwohl niemand gefragt hat. Die umstehenden Wartenden starren wie gebannt auf seine Hände, nicht aus Interesse, sondern weil es immer noch unterhaltsamer ist als die Betrachtung des gerahmten Diploms an der Wand.
Schlüssel als Werkzeug
»Normalerweise würde man hier einen 5er-Inbus verwenden«, doziert er fachmännisch, während er seinen Haustürschlüssel zweckentfremdet. Eine Frau mit Halskrause nickt anerkennend, als hätte sie gerade eine Offenbarung erlebt. Und dann war da noch der Junge, der vorlaut fragt, warum der Mann mit dem Müll spielt. Ich musste schmunzeln und im nächsten Augenblick wurde er von seiner Mutter auch schon wieder hastig zum Schweigen aufgefordert.
Wartezimmer-Dramaturgie
Mit jeder Minute wächst das Interesse, nicht weil der provisorische Reparaturversuch beeindruckend wäre, sondern weil sich hier eine hierarchische Verschiebung vollzieht: Der selbsternannte Heimwerker ist vom passiven Wartenden zum aktiven Gestalter aufgestiegen. Er hat – wenn auch nur für Momente – die Kontrolle über sein Schicksal zurückerobert.
Mission erfüllt
Nach zwanzig Minuten steht der Zeitschriftenständer wieder – schief zwar und bedenklich wankend, aber das passt perfekt zur generellen Ästhetik des Raumes. Der Mann verbeugt sich nicht, aber seine selbstgefällige Miene verrät alles. Er hat dem System ein Schnippchen geschlagen, indem er die Zeit besiegt hat. Als er schließlich aufgerufen wird, hinterlässt er ein merkwürdiges Vakuum. Die Zurückbleibenden betrachten sein Werk mit einer Mischung aus Wehmut und Neid.
Sozialer Kitt entsteht
Für mich sind solche spontanen Intermezzi im Wartezimmer-Alltag mehr als bloße Zeitvertreibe – sie sind amüsante Begebenheiten, die den sozialen Kitt dieser Zwangsgemeinschaft bilden. Für einen kurzen Augenblick verwandelt sich der sterile, von Desinfektionsmittelgeruch und anderen »Dingen«, die ich nicht genauer beschreiben möchte, durchdrungene Raum in einen Ort gemeinschaftlicher Erfahrung, bevor alle wieder in ihre isolierten Existenzblasen zurückkehren.
Das Paradoxon der Zeitwahrnehmung
Einstein wäre bestimmt begeistert gewesen: Nirgendwo lässt sich die Relativitätstheorie besser studieren als in diesen Räumen. Fünf Minuten im Wartezimmer entsprechen etwa drei Stunden in der Außenwelt. Besonders faszinierend: Die Zeit dehnt sich proportional zur Dringlichkeit des eigenen Termins. Wer nur kurz ein Rezept abholen will, erlebt eine zeitliche Ausdehnung, die Schwarze Löcher vor Neid erblassen ließe.
Tickende Folter
Die Uhr an der Wand – garantiert mit leicht tickendem Sekundenzeiger, der jeden Wartenden in den Wahnsinn treibt – scheint einem völlig anderen physikalischen Gesetz zu folgen. Manchmal steht sie still, manchmal scheint sie rückwärts zu laufen. Nur eines tut sie nie: die Zeit so anzeigen, wie sie draußen in der realen Welt vergeht.
Passive Aggression triumphiert
»Der Nächste, bitte!« – dieser harmlos klingende Satz hat in Wirklichkeit mehr Facetten als ein geschliffener Diamant. Er kann flehend klingen (wenn bereits Überstunden gemacht werden), schneidend (wenn jemand zu spät kam) oder resigniert (gegen Ende eines langen Tages).
Namensverstümmelung als Test
Die wahre Kunstform ist jedoch das Ausrufen meines Namens mit einer Betonung, die ihn völlig unkenntlich macht. »Herr… Voaltlipf?« Acht Menschen schauen verwirrt auf, weil jeder glaubt, gemeint zu sein. Dies ist keine Inkompetenz – es ist sicher ein raffinierter psychologischer Test. Wer unter diesen Bedingungen seinen eigenen Namen erkennt, ist offensichtlich gesund genug, um nach Hause geschickt zu werden.
Stille Solidarität
Trotz aller Absurditäten entsteht im Wartezimmer manchmal eine seltsame Form der Solidarität, ähnlich wie bei Überlebenden einer Naturkatastrophe. Niemand spricht es aus, aber alle wissen: Man sitzt im selben Boot, das langsam aber sicher untergeht.
Gemeinschaft der Leidenden
Ein kaum wahrnehmbares Nicken, wenn endlich jemand aufgerufen wird – wie Häftlinge, die dem Begnadigten hinterherschauen. Diese flüchtige Gemeinschaft der Wartenden trägt mehr zur Volksgesundheit bei als sämtliche Vitaminpräparate in der angrenzenden Apotheke, denn sie bestätigt: Wir leiden alle, also bin ich normal.
Die wahre Prüfung
Die wirklich Weisen unter den Wartenden haben längst das System durchschaut: Die Krankheit ist nicht das Problem – das Wartezimmer ist die eigentliche Prüfung. Wer nach drei Stunden auf diesen Foltersesseln noch lebt, ist offensichtlich zu robust, um ernsthaft krank zu sein.
Unausgesprochene Kommunikation
Mit etwas Geduld im Warteraum, das kann auch durchaus mal Stunden dauern, entwickeln sich feine, unausgesprochene Kommunikationsrituale. Das stumme Kopfnicken beim Eintreten eines Neuankömmlings, der verzweifelte Blickwechsel, wenn wieder jemand anders aufgerufen wird, das kollektive, kaum merkliche Seufzen, wenn die Mittagspause beginnt und die Hoffnung auf Erlösung für mindestens eine Stunde schwindet. Selbst die Art, wie jemand seine Jacke zusammenfaltet oder seine Tasche hält, wird zu einer Art Zeichensprache, die nur Eingeweihte entschlüsseln können.
Geheime Allianzen
Manchmal, in seltenen Momenten der Verbundenheit, bilden sich sogar temporäre Allianzen: Ein kurzer Kommentar über das Wetter, ein geteiltes Augenrollen über besonders lange Wartezeiten, ein verschwörerisches Lächeln, wenn jemand nach drei Stunden endlich aufgerufen wird. Diese flüchtigen Momente menschlicher Verbindung im Angesicht gemeinsamer Prüfungen sind wie kleine Funken Menschlichkeit, nur leider dauern sie immer nur viel zu kurz an.
Verdrängung wirkt wunderbar
Die wahre Ironie offenbart sich übrigens erst beim Verlassen des Wartezimmers: Kaum ist man draußen, schrumpft die gefühlte Ewigkeit des Wartens zu einer Anekdote zusammen. »Ach, war gar nicht so schlimm heute.« Es ist, als hätte das Wartezimmer ein eigenes Gravitationsfeld, das nicht nur Körper, sondern auch Erinnerungen verzerrt.
Selektive Amnesie
Diese merkwürdige Amnesie ist ein faszinierendes psychologisches Phänomen, das meiner Meinung nach bisher zu wenig erforscht wurde. Ähnlich wie bei einer Geburt oder einem Marathonlauf scheint das Gehirn die Intensität des Erlebten zu mildern, sobald es vorbei ist. Anderenfalls würde vermutlich niemand je wieder einen Fuß in eine Arztpraxis setzen. Diese selektive Erinnerung ist möglicherweise ein evolutionärer Vorteil – wie sollte die Menschheit sonst überleben, wenn sie sich an jedes Detail medizinischer Wartemartyrien erinnern würde?
Dopaminschub
Besonders bemerkenswert ist auch die unmittelbare Metamorphose, die sich beim Verlassen der Praxis vollzieht. Die gebeugte Haltung richtet sich auf, der Schritt wird federnd, die Atmung tiefer. Selbst chronische Schmerzen scheinen für einige Augenblicke zu verblassen, ersetzt durch das euphorische Gefühl der wiedererlangten Freiheit. Dieser kurze Moment des Hochgefühls – die »post-Wartezimmer-Euphorie« – ist möglicherweise der stärkste natürliche Dopaminschub, den ein Mensch ohne Extremsport erleben kann.
Und während ich beim Hinausgehen der Sprechstundenhilfe zunicke – dieser wahren Herrscherin über Leben und Wartezeit – denke ich schon an den nächsten Termin in drei Monaten und spüre diesen kleinen Stich im Herzen. Doch ich weiß, dass ich den getrost ignorieren kann. Der tritt erst wieder auf, wenn ich das nächste Mal das Wartezimmer besuche.
© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt