Die Wahl der Qual

Es gibt wohl kaum etwas Gemütlicheres, als sich nach einem anstrengenden Tag endlich auf das heimische Sofa zu fläzen, sich in die Lieblingsdecke einzurollen und dabei durch die endlosen Weiten der Streaming-Dienste zu scrollen. Als Nächstes bedarf es nur noch der Entschlossenheit eines digitalen Goldsuchers, um dann einen richtig guten Film zu finden, der die nächsten zwei Stunden aus dem Alltag entführt. Dabei sollte mir das Genre zusagen und die Gesamtbewertung überzeugen, während das vielversprechende Filmplakat mein Interesse weckt, sodass ich erwartungsvoll auf die Beschreibung klicke. Und dann geschieht es – dieser Verrat an allen Filmfreunden dieser Welt.

Enthüllungsexzess pur

»Nach dem tragischen Tod seiner Frau zieht John mit seinem Sohn in die Kleinstadt Millbrook, wo er auf die geheimnisvolle Sarah trifft, die, wie sich später herausstellt, mit dem Mörder seiner Frau verwandt ist, was zu einer dramatischen Konfrontation führt, bei der John sich zwischen Rache und Vergebung entscheiden muss, während ein Hurrikan die Stadt bedroht.«

Moment mal. War das gerade die Zusammenfassung eines Films oder ein kompletter Roman in Kurzform? Die ersten 90 Minuten des Films liegen nun entblößt da wie ein aufgeschlagenes Buch bei Stromausfall – alle können es sehen, niemand will es mehr lesen. Der einzige Spannungsfaktor, der noch bleibt, ist die Frage, ob John am Ende tatsächlich vergibt oder ob er doch zur Mistgabel greift, während der Hurrikan wahrscheinlich nur wie ein Sturm im Wasserglas für etwas mehr Atmosphäre sorgen soll.

Ernsthaft, was ist aus dem guten alten »Weniger ist mehr« geworden? Seit wann müssen Filmbeschreibungen so detailliert sein wie eine Gebrauchsanweisung für eine Kopfschmerztablette? Man stelle sich vor, Beethoven hätte seiner 9. Symphonie eine Minute-für-Minute-Analyse beigelegt: »In der 58. Minute folgt ein besonders überraschender Paukenschlag, der die Hörenden in Staunen versetzen wird, woraufhin in Minute 62 die Streicher triumphierend das Hauptthema wieder aufnehmen.«

Kleiner Aperitif

Stellen wir uns einmal vor, Filmbeschreibungen wären wie diese kleinen Probierhäppchen im Supermarkt – gerade genug, um den Geschmack zu testen, aber nicht die ganze Mahlzeit. Eine zeitliche Begrenzung von 15 Filmminuten für den Inhalt der Beschreibung wäre wie ein wohldosiertes Amuse-Gueule für den cineastischen Gaumen.

»John, ein verwitweter Vater, zieht mit seinem Sohn in die verschlafene Kleinstadt Millbrook, um neu anzufangen. Doch schon bald merkt er, dass hinter der idyllischen Fassade dunkle Geheimnisse lauern.«

Fertig. Aus. Ende der Durchsage. Ist das nicht viel verheißungsvoller? Plötzlich entstehen Fragen: Welche Geheimnisse? Was hat das mit Johns Vergangenheit zu tun? Man muss jetzt tatsächlich den Film schauen, um es herauszufinden! Was für ein revolutionäres Konzept! Fast so revolutionär wie Popcorn ohne Maisbutter oder Waschmaschinen, die tatsächlich alle Socken behalten.

Überinformationsflut

Es ist, als hätten die Verfasser dieser Roman-Beschreibungen eine irrationale Angst, man könnte den Film nicht auswählen, wenn sie nicht bereits den gesamten Handlungsverlauf einschließlich der unvermeidlichen Wendung im dritten Akt verraten. Als wäre das Streaming-Menü ein All-you-can-eat-Buffet, bei dem schon vor der Hauptspeise der Nachtisch in den Mund geschoben wird. Und es sind nicht nur die Beschreibungstexte bei den Streaming-Diensten, die sich oft nicht daran halten: Auch in Fernsehzeitschriften, Kinofilmbeschreibungen, Filmtrailern und sogar bei Hörbüchern wird gerne gnadenlos das volle Programm gespoilert.

Man stelle sich vor, wie diese Beschreibungen in anderen Lebensbereichen aussehen würden:

Bei einem Krimi: »Der Gärtner löst den Mord auf Seite 237, nachdem er entdeckt, dass die Teekanne im Arbeitszimmer mit Gift gefüllt war, das die Haushälterin dort platziert hatte, um den reichen Erben zu beseitigen, der eigentlich ihr unehelicher Sohn ist.«

Auf einer Speisekarte: »Dieses Dessert wird mit Schokolade serviert, die anfangs bittersüß schmeckt, dann einen Hauch von Himbeere offenbart und nach 16 Sekunden im Mund einen überraschenden Karamellnachgeschmack entwickelt, während die knusprige Oblate dazu einen texturellen Kontrast bildet.«

Oder beim Blind Date: »Übrigens, ich werde bei unserem vierten Treffen einen peinlichen Tanzversuch unternehmen, im zweiten Jahr unserer Beziehung einen Heiratsantrag machen und nach zehn Jahren Ehe eine Midlife-Crisis durchleben, bei der ich mir einen Sportwagen kaufe und heimlich den Instagram-Account meiner Kollegin stalke.«

Algorithmen als Spaßverderber

Natürlich steckt hinter diesem Phänomen ein System – die allmächtigen Algorithmen, die uns besser zu kennen glauben als wir selbst. Sie haben anscheinend entschieden, dass wir Menschen nicht mehr in der Lage sind, uns auf Überraschungen einzulassen. Dass wir, bevor wir zwei Stunden unseres kostbaren Lebens in einen Film investieren, genau wissen müssen, ob der Protagonist am Ende triumphiert, leidet oder von Aliens entführt wird, die verdächtigerweise genau wie Menschen aussehen, nur mit größeren Augen und einer merkwürdigen Vorliebe für Kohlsuppen.

Es ist die Manifestation unserer modernen Kontrollsucht. In einer Welt voller Ungewissheiten – vom täglichen Verkehrschaos bis zum mysteriösen Inhalt der Kantine-Lasagne – wird angenommen, dass wir wenigstens bei unserer Abendunterhaltung keine bösen Überraschungen erleben wollen.

Aber ist das nicht genau der Reiz des Films? Diese magischen Momente, in denen wir völlig unvorbereitet von einer Geschichte mitgerissen werden? Wenn plötzlich eine unerwartete Wendung uns den Atem raubt oder ein überraschender Charakter die gesamte Handlung auf den Kopf stellt?

Vorschlag einer Spoiler-Skala

In meiner ganz persönlichen, durchaus utopischen Streaming-Welt gäbe es eine kleine Einstellung: »Spoiler-Level«. Man könnte wählen zwischen:

  • Nihilistische Andeutung: »Ein Film über Menschen mit Gefühlen.«
  • Poetische Verdichtung: »Wo Vergangenheit auf Gegenwart trifft und die Zukunft ungewiss bleibt.«
  • Klassische 15-Minuten-Offenbarung: »John zieht in eine neue Stadt und entdeckt dort ein Geheimnis.«
  • Mittlere Enthüllung: »Johns Vergangenheit holt ihn ein, als er auf Sarah trifft.«
  • Fast-Food-Spoiler: »John muss sich zwischen Rache und Vergebung entscheiden.«
  • Vollständige Kapitulation: »Hier ist der komplette Film in Textform, inklusive des überraschenden Post-Credit-Twist, in dem der Hauptdarsteller als zukünftiger Bösewicht der Franchise enthüllt wird, plus eine Analyse der Kameraeinstellungen und eine Interpretation des Farbschemas als Metapher für die emotionale Entwicklung der Nebenfiguren.«

Wäre das nicht wunderbar? Eine Welt, in der selbst entschieden werden könnte, wie viel vor dem tatsächlichen Filmgenuss erfahren werden soll? Gut, es müsste sich jemand die Mühe machen, diese Texte als Metainformation zu hinterlegen, aber wer so viel Geld für die Produktion eines Films ausgibt, der wird sicher noch ein paar Euro für einen Texter übrig haben, der mehr kann als nur die gesamte Story eins zu eins wiederzugeben.

Verlorene Neugier

Es liegt etwas wundervoll Altmodisches in der Idee, einen Film zu beginnen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Es erinnert an die Zeit, als man als Kind ins Kino ging, nur basierend auf einem vagen Filmplakat und einem kryptischen Titel. Und dann diese magischen zwei Stunden, in denen sich eine völlig unerwartete Welt vor den Augen entfaltete. Das war Kino in seiner reinsten Form – unvorhergesehen, ungefiltert, ungespoilert.

Wann haben wir aufgehört, dem Unbekannten zu vertrauen? Wann wurde aus einem »Ich bin gespannt, was mich erwartet« ein »Ich muss genau wissen, was mich erwartet, sonst schaue ich es gar nicht erst«? Vielleicht genau in dem Moment, als wir begannen, unsere Mahlzeiten zu fotografieren, bevor wir sie essen – als die Dokumentation des Erlebnisses wichtiger wurde als das Erlebnis selbst.

Süße Ungewissheit

In einer Welt, die ständig mehr Kontrolle, mehr Information, mehr Vorhersehbarkeit verspricht, könnte die bewusste Entscheidung für das Unbekannte der wahre Luxus sein. Die filmischen 15 Minuten Vorgeschmack – nicht mehr, nicht weniger – wären ein kleines Zugeständnis an das Abenteuer des Ungewissen. Eine sanfte Einladung, sich überraschen zu lassen, ohne gleich völlig blind ins Kino zu stolpern wie jemand, der versehentlich in die falsche Umkleidekabine geraten ist.

Ich habe es natürlich auch schon gewagt, einen Film ganz ohne Beschreibung oder weitere Informationen zu sehen. Doch leider führte dies oft zu einem dermaßen schlechten Griff, dass ich den Film nach einer guten Viertelstunde abgebrochen habe, weil der Verlauf so zäh und uninteressant war wie ein Dokumentarfilm über das Trocknen von Farbe. Wenn ich einen Film starte, dann sollte es schon auch passen, ansonsten macht das auch keine Freude. Da ist so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich die goldene Regel – ähnlich wie bei Besuchen der Schwiegermutter.

Balance-Kunst finden

Also werde ich wohl weiterhin seufzend Filmbeschreibungen durchscrollen, die mir oft alles verraten, außer vielleicht der Blutgruppe des Kameramanns und der Schuhgröße des Beleuchters. Kleiner Tipp aus meiner Erfahrung: Oft lese ich nur noch die Hälfte des Beschreibungstextes durch und entscheide mich dann für oder gegen den Film. Dabei muss ich nur sehr aufpassen, dass ich nicht versehentlich zu weit lese, weil ich es aus der Routine gewohnt bin.

Die wahre Filmweisheit liegt vielleicht in einer Art meditativer Gelassenheit: Den Spoiler wahrnehmen, aber nicht an ihm haften. Die Beschreibung lesen, aber ihr nicht die Macht geben, den Filmgenuss zu kontrollieren. Gewissermaßen ein cineastischer Zen-Zustand, in dem selbst die größten Spoiler wie Wolken am Himmel der Wahrnehmung vorbeiziehen.

Verführerisches Parfüm

Und insgeheim träume ich doch von dieser perfekten Balance zwischen Neugierde und Überraschung, zwischen Ahnung und Offenbarung. Von Filmbeschreibungen, die wie ein verführerisches Parfüm sind – gerade genug, um Interesse zu wecken, aber nicht so aufdringlich, dass es den ganzen Raum einnimmt und den letzten Hauch von Geheimnis erstickt.

Denn manchmal ist die schönste Reise diejenige, bei der nicht gewusst wird, wohin sie führt. Auch wenn sie nur zwei Stunden auf der Couch dauert, mit einer Schüssel Popcorn auf dem Schoß und dieser einen, verbliebenen Frage im Kopf: »Wird John am Ende tatsächlich vergeben? Oder greift er doch zur Mistgabel?«

© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt