Wenn Dreistigkeit auf Charme trifft

Ein Tanz zwischen Frechheit und Bewunderung

Es gibt diese besonderen Wörter, die eine ganze Welt in sich tragen. Wörter, die man nicht einfach übersetzen kann, weil beim Versuch etwas Wesentliches verloren geht – wie ein Witz, den man erklären muss. »Chuzpe« ist genau solch ein Wort. Lange Zeit war es mir völlig unbekannt, bis ich eines Tages über das Buch »…dann bin ich auf den Baum geklettert!« von D. Rossmann stolperte. Der Autor verwendete das Wort so inflationär, dass es unmöglich war, es zu übersehen. Wie ein exotisches Gewürz, das plötzlich in jedem Gericht auftaucht und den Gaumen herausfordert.

Wortgeschichte kompakt

Tauchen wir ein in die Ursprünge dieses faszinierenden Begriffs. »Chuzpe« – oder alternativ »Chutzpe« geschrieben – stammt aus dem Jiddischen und hat seinen Ursprung im Hebräischen. Die Aussprache ähnelt übrigens [xʊtspə], wobei das »ch« als Ach-Laut ausgesprochen wird, härter als bei »China« oder »Chemie«. Ein kleines Zungenbrecher-Vergnügen für alle Nicht-Muttersprachler!

Wörtlich übersetzt bedeutet Chuzpe »Frechheit«, »Anmaßung«, »Dreistigkeit« oder »Unverschämtheit«. Doch das trifft es nicht ganz. Es ist, als würde ich die »Mona Lisa« nur als »Bild einer lächelnden Frau« beschreiben. Technisch korrekt, aber es fehlt die Essenz.

Die Natur der Chuzpe

Interessanterweise hat Chuzpe ein gespaltenes Wesen – wie Janus, der römische Gott mit den zwei Gesichtern. In der hebräischen Kultur ist der Begriff überwiegend negativ besetzt. Er beschreibt Menschen, die aus egoistischen Motiven die Grenzen von Höflichkeit und Anstand überschreiten.

List statt Macht

Im jiddischen Sprachgebrauch und in den meisten europäischen Sprachen hat sich jedoch eine faszinierendere Nuance entwickelt: Hier schwingt oft eine heimliche Anerkennung mit. Chuzpe wird zur Beschreibung einer sozialen Unerschrockenheit, einer cleveren Art, sich gegen Widerstände und Obrigkeiten durchzusetzen. Es ist die Eigenschaft, in einer eigentlich aussichtslosen Situation mit einer Mischung aus Dreistigkeit und Gewitztheit noch etwas für sich herauszuschlagen.

Sprache gegen Vorurteile

Historisch betrachtet hatte der Begriff allerdings auch im europäischen Raum eine negative Konnotation – er wurde als Vorwurf gegen jüdische Menschen verwendet, als angeblich typisch jüdische Unhöflichkeit. Eine unschöne Facette in der Begriffsgeschichte, die man nicht verschweigen sollte. Wie so oft hat sich die Sprache weiterentwickelt, während sich viele Vorurteile bedauerlicherweise noch nicht in Luft aufgelöst haben.

Beispiele für das Unübersetzbare

Die Kunst der Chuzpe lässt sich nicht durch trockene Definitionen erfassen, sondern ich möchte jetzt noch ein paar Geschichten einfließen lassen, die gut Momentaufnahmen menschlicher Dreistigkeit aufzeigen und dabei zwischen Frechheit und Bewunderung balancieren.

Der mittelose Bettler

Im Musical »Anatevka« findet sich eine klassische Szene, die Chuzpe in Reinkultur zeigt und immer wieder in diesem Zusammenhang zitiert wird: Ein mittelloser Bettler konfrontiert einen wohlhabenden Fleischer mit einer Dreistigkeit, die jenseits normaler Sozialkonventionen liegt. Nicht zufrieden mit der kargen Münze, die er erhält, reklamiert er kühn eine höhere Spende – mit der unverschämten Logik und Unverfrorenheit, dass der Geber in der Vorwoche großzügiger gewesen sei.

Der Vollwaise

Eine noch skurrilere Illustration liefert die Geschichte des Mannes, der nach der Ermordung seiner Eltern vor Gericht mildernde Umstände erbittet – mit der schier unfassbaren Begründung, nun Vollwaise zu sein. Die Chuzpe liegt hier in der kompletten Verdrehung jeglicher moralischer Logik.

Eine Metaerzählung

Und um die Reihe der typischen Beispiele zu komplettieren, möchte ich noch auf den jüdischen Witz über die Erklärung von Chuzpe eingehen: Ein Angeklagter wird aufgefordert, den Begriff Chupze zu definieren. Seine Erklärung wird zu einer verschachtelten Metaerzählung, die das Wesen der Chuzpe selbst verkörpert – unübersetzbar, vielschichtig und letztlich nur demjenigen wirklich verständlich, der die kulturelle Nuance begreift.

Diese Beispiele zeigen: Chuzpe ist mehr als eine Übersetzung. Sie ist eine Kunstform der Kommunikation, ein subtiles Spiel zwischen Respektlosigkeit und Charme, zwischen Frechheit und Intelligenz. Wie ein Jongleur, der mit scharfen Messern hantiert – beeindruckend, wenn’s klappt, blutig, wenn nicht.

Wo Chuzpe den Alltag prägt

Im Alltag begegnet uns Chuzpe häufiger, als wir denken. Ich denke beispielsweise an den dreisten Autofahrer, der sein Fahrzeug zum Feierabendverkehr auf einer stark befahrenen Straße in zweiter Reihe parkt und den Warnblinker einschaltet – als würde diese magische Taste plötzlich Verkehrsregeln außer Kraft setzen. »Ich bin ja nur kurz weg« – der Standardsatz aller Falschparker, gesprochen mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es ein verfassungsmäßig verbrieftes Recht. Während ich mich vorbeischlängele, sehe ich im Rückspiegel, wie er sich gemütlich einen Döner am Imbissstand holt – er wäre bestimmt sonst verhungert.

An der Supermarktkasse

Oder nehmen wir die Person an der Supermarktkasse, die mit einem vollen Einkaufswagen an der Express-Kasse (maximal 8 Artikel!) auftaucht und überrascht tut, als käme die Beschränkung völlig unerwartet. Besondere Chuzpe-Punkte gibt es, wenn besagte Person dann noch einen Artikel zum Umtausch dabei hat und nach dem Manager verlangt, weil die Kassiererin nicht sofort einen Ersatz herbeizaubern kann.

Im Büroalltag

Doch der Klassiker findet sich wohl täglich im Büroalltag: Es geht um die eine besondere Mitarbeiterin, die im Meeting eine brillante Idee von ihrer Kollegin wiederholt – nur geringfügig umformuliert – und dann den Applaus und die Anerkennung dafür einstreicht. Wenn die Kollegin es jedoch anmerkt, erntet sie nur fragende Blicke und ein »Ach, hast du das auch schon gesagt? Muss ich überhört haben.« Chuzpe in Perfektion.

Aus dem Berufsalltag

Genug der Theorie – kommen wir zur Praxis. Nichts veranschaulicht eine Beschreibung besser als eine Geschichte aus dem echten Leben, dem Berufsalltag. Die folgende Geschichte ist fiktiv, aber jeder, der schon einmal in einem toxischen Arbeitsumfeld gefangen war, wird schmunzelnd nicken. Vielleicht sogar ein bisschen zu heftig.

Thomas – Mitarbeiter des Jahres

Dazu möchte ich gerne Thomas vorstellen, ein gewissenhafter Mitarbeiter in einem mittelständischen Unternehmen. Sein Chef, Herr Berger, ist ein Meister der Chuzpe – allerdings nicht in der charmanten Variante.

Eines Tages wird Thomas von seinem Chef, Herrn Berger, in sein Büro gerufen. Mit strahlendem Lächeln verkündet er: »Thomas, ich habe fantastische Neuigkeiten! Die Kollegen Weber und Schmidt haben gekündigt. Rate mal, wer deren Arbeit übernehmen darf?«

Thomas ahnt Böses. »Ich?«

»Genau! Ist das nicht großartig? Eine echte Chance, dich zu beweisen!«

»Aber… das ist die Arbeit von drei Personen. Wie soll ich das schaffen?«

Herr Berger winkt ab. »Ach, du bist so effizient, du schaffst das locker. Übrigens, nächste Woche ist die Jahrespräsentation. Du übernimmst doch sicher die Vorbereitung, oder?«

Thomas spürt, wie sein Blutdruck steigt. »Herr Berger, ich arbeite jetzt schon regelmäßig bis 21 Uhr…«

»Teamgeist, Thomas! Teamgeist! Wir sitzen alle im selben Boot.«

»Dann sollten wir vielleicht alle rudern und nicht nur einige.«

Herr Berger überhört den Einwand gekonnt. »Super, dass wir einer Meinung sind. Ach ja, eine Gehaltsanpassung ist leider nicht drin – Budgetkürzungen, du verstehst.« Er klopft Thomas väterlich auf die Schulter und fügt hinzu: »Aber denk an den Lebenslauf – diese Erfahrung ist unbezahlbar, wirklich unbezahlbar!«

Wir erkennen bereits, wohin sich die Situation entwickelt. Thomas macht, was die meisten auch in seiner Situation gemacht hätten: Er arbeitet wie besessen. Seine Freunde sieht er kaum noch, sein Schlaf reduziert sich auf wenige Stunden pro Nacht. Warnzeichen der Erschöpfung ignoriert er, schließlich will er ein »Teamplayer« sein. Seine Katze hat inzwischen aufgehört, ihn bei der Heimkehr zu begrüßen – sie hat ihren Besitzer schlicht vergessen.

Als Thomas seinen Chef schließlich um Unterstützung bittet, kommt die Antwort prompt: »Thomas, wenn du deinem Job nicht gewachsen bist, sollten wir vielleicht über deine Zukunft im Unternehmen nachdenken.«

Das ist der Tropfen, der das Fass bei Thomas zum Überlaufen bringt. Er ist mittlerweile ein ausgebranntes Wrack, reflektiert die Situation und die letzten Wochen. Dann fasst er einen Entschluss und schreibt eine E-Mail:

»Sehr geehrter Herr Berger,
hiermit teile ich Ihnen mit, dass ich meinen Vertrag zum nächstmöglichen Zeitpunkt auslaufen lasse. Bis dahin nehme ich meinen restlichen Jahresurlaub, beginnend ab morgen.
Die Projekte Weber, Schmidt und Thomas finden Sie auf dem Server. Passwort ist ‚ChuzpeHatGrenzen‘.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas«

Wer macht hier Chuzpe?

Ist das nun Chuzpe von Thomas? Oder einfach nur gesunder Menschenverstand? Vielleicht beides. Denn manchmal ist es die größte Chuzpe, einfach »Nein« zu sagen, wenn alle um einen herum »Ja« nicken. Und manchmal ist es auch die gesündeste Entscheidung, bevor man mit dem Gesicht auf der Tastatur einschläft oder gar das einmalige Angebot vom Arbeitgeber bekommt, zukünftig nur noch halbtags zu arbeiten, weil man ja angeblich »mit lässiger Leichtigkeit« das Arbeitspensum schafft.

Doppelmoral bis zum Abwinken

Interessanterweise wird Chuzpe in der Berufswelt oft anders bewertet, je nachdem, von welcher hierarchischen Ebene sie ausgeht. Wenn der Chef unmögliche Forderungen stellt, gilt er als »durchsetzungsstark« und »ambitioniert«. Wenn der Mitarbeiter Grenzen setzt oder Gegenforderungen stellt, ist er »schwierig« oder »nicht teamfähig«.

Diese Doppelmoral findet sich in vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Die Chuzpe der Mächtigen wird oft bewundert, während die Chuzpe der weniger Mächtigen als Affront gilt. Dabei wäre manchmal mehr Chuzpe von unten genau das, was wir brauchen: Ein gesundes – ich möchte wirklich betonen: gesundes – Maß an Respektlosigkeit gegenüber überholten Hierarchien und ausbeuterischen Strukturen.

Eine Frage des Gleichgewichts

Ich möchte hier niemanden ermutigen, zum rücksichtslosen Egoisten zu mutieren. Chuzpe im positiven Sinne ist keine Aufforderung zur Respektlosigkeit um ihrer selbst willen. Sie ist vielmehr die Fähigkeit, für sich selbst einzustehen, wenn es nötig ist – mit einer Prise Humor und ohne sich von falscher Bescheidenheit oder Angst lähmen zu lassen.

Die meisten Menschen leiden nicht an einem Übermaß, sondern an einem Mangel an Chuzpe. Sie sind zu höflich, zu zurückhaltend, zu besorgt, was andere denken könnten. Diese Menschen schlucken Ungerechtigkeiten hinunter, bis sie daran ersticken. Sie stehen eine Stunde im Restaurant, weil der Kellner sie ignoriert, anstatt höflich aber bestimmt auf sich aufmerksam zu machen. Wer hier noch zögert: Einfach mal eine Blumenvase umschmeißen, dann kommt der Kellner meistens von alleine vorbei und kümmert sich um einen.

Ein wenig mehr Chuzpe könnte vielen von uns gut tun – die Kunst, manchmal unverfroren zu sein, ohne dabei die Menschlichkeit zu verlieren. Die Fähigkeit, »Nein« zu sagen, wenn ein »Ja« selbstzerstörerisch wäre. Der Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, wenn alle anderen schweigen.

Unverzichtbare Lebenskunst

Chuzpe ist mehr als nur ein unübersetzbares jiddisches Wort. Es ist eine Lebenshaltung, die Respekt vor Autoritäten mit gesundem Selbstbewusstsein ausbalanciert. Die Weisheit zu wissen, wann man höflich sein sollte und wann es Zeit ist, frech zu sein. Und die Fähigkeit, das System zu durchschauen und seine Regeln gerade so weit zu biegen, dass sie nicht brechen.

In einer Welt, die oft von falscher Höflichkeit und leeren Phrasen geprägt ist, kann ein Hauch von wohlplatzierter Chuzpe wie ein erfrischender Wind wirken. Nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck: um authentischer zu leben, klarer zu kommunizieren und fester für die eigenen Werte einzustehen.

Letztlich geht es meiner Meinung nach darum, den feinen Grat zu finden. Den Grat zwischen Anpassung und Rebellion, zwischen Höflichkeit und Selbstbehauptung, zwischen Rücksichtnahme und Durchsetzungsvermögen. Chuzpe in ihrer edelsten Form ist vielleicht genau diese Balance – die Kunst, unangepasst zu sein, ohne dabei arrogant zu werden, und die Gabe, für sich selbst einzustehen, ohne dabei andere niederzutrampeln.

Also – haben wir den Mut zur Chuzpe.

Eine Prise Chuzpe im Alltag kann das Salz in der Suppe des Lebens sein. Zu viel davon verdirbt den Geschmack – zu wenig lässt alles fade schmecken.

Verwendete Quellen:

© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt