Über die menschliche Sturheit

Es gibt Momente im Leben, da steht man vor einem Scherbenhaufen und denkt sich: »Hätte ich doch nur früher aufgehört.« Aber nein, stattdessen wird weitergemacht, nachgeschossen, durchgehalten – bis zum bitteren Ende. Die Psychologie hat für dieses allzu menschliche Phänomen einen wunderbaren Begriff: die Sunk Cost Fallacy, auf Deutsch etwas sperrig »Versenkte-Kosten-Täuschung« oder »Versunkene-Kosten-Falle« genannt.

Im Jahr 2015 wurde mir dieser Begriff erstmals präsent und faszinierte mich zugleich. Er beschreibt einen der hartnäckigsten Denkfehler der Menschheit: die Tendenz, an etwas festzuhalten, nur weil bereits viel hineingesteckt wurde – Zeit, Geld, Nerven, oder alle drei zusammen. Dabei wäre manchmal im Leben ein rechtzeitiger Absprung das Klügste, was man tun kann. Doch ist das in der Praxis nicht so einfach, wie es scheint, und so gehen wir der spannenden Thematik mal etwas näher auf den Grund.

Durchhaltevermögen in Perfektion

Besonders stark rückte dieser Begriff beim Bau des Berliner Flughafens ins öffentliche Bewusstsein, denn viele Experten diskutierten, ob es nicht ökonomisch sinnvoller wäre, den Bau komplett abzubrechen und neu anzufangen. Ein radikaler Gedanke! Aber durchaus vernünftig, wenn man bedenkt, dass sich die ursprünglich geplanten Kosten bereits vervielfacht hatten und ein Ende nicht in Sicht war.

Ein einfaches Beispiel verdeutlicht dieses Prinzip: Wenn die Reparatur eines kaputten Stuhls das Fünffache eines neuen Stuhls kostet, kauft man vernünftigerweise einen neuen. So ist jedenfalls ist meine Denkweise!

Aber wie wir alle wissen: Natürlich wurde weitergebaut. Schließlich war ja schon so viel Geld im Boden versunken – im wahrsten Sinne des Wortes. Der BER wurde schließlich 2020 eröffnet, nach 14 Jahren Bauzeit und Kosten von über sieben Milliarden Euro. Das ursprüngliche Budget? Zwei Milliarden. Gut geplant hätten wir dafür auch fünf Flughäfen bekommen können.

Der Flughafen ist das perfekte Beispiel dafür, wie die Sunk Cost Fallacy funktioniert: Man hat bereits so viel investiert, dass ein Abbruch wie eine Verschwendung wirkt. Dabei übersieht man geflissentlich, dass weitermachen oft die noch größere Verschwendung ist.

Alltägliche Fallen

Ich hatte bereits viele Erlebnisse in meinem Leben, in denen ich in diese Falle getappt bin. Wie einfach das jeden von uns passieren kann, möchte ich mit ein paar  Beispielen untermauern:

Das Restaurant-Drama

Zuerst einmal kennen wir natürlich diese ganz alltägliche Situation: Man sitzt in einem Restaurant, das Essen ist grottig, der Service eine Katastrophe, aber das Hauptgericht ist bestellt und bezahlt. Also wird tapfer weitergegessen, Bissen um Bissen, während der Magen rebelliert. Schließlich will man das Geld nicht »verschwendet« haben. Dass man dabei kostbare Zeit, seine Geschmacksnerven und eventuell sogar den tapferen Verdauungsapparat opfert, spielt irgendwie keine Rolle.

Der Kino-Marathon des Grauens

Oder der Klassiker im Kino: Nach zwanzig Minuten ist klar, dass der Film ein einziges Desaster ist. Aber die Kinokarte war teuer! Also harrt man aus, während zwei Stunden kostbare Lebenszeit in einem dunklen Raum verpuffen, nur um nachher frustriert nach Hause zu gehen und sich zu ärgern – über den Film und die eigene Sturheit.

Die Fitness-Studio-Falle

Besonders perfide ist das Phänomen bei Fitness-Studio-Mitgliedschaften. Monat für Monat wird der Beitrag abgebucht, während die Sporttasche verstaubt. Aber kündigen? Niemals! Schließlich hat man ja bereits so viel bezahlt, und im nächsten Monat nimmt man sich vor, garantiert wieder anzufangen. Wir kennen bereits die Antwort: Natürlich macht man dies sehr wahrscheinlich nicht.

Wo Emotionen teuer werden

Das Drama der nachgekauften Hoffnung

Nirgendwo zeigt sich die Sunk Cost Fallacy so gnadenlos wie an der Börse. Eine Aktie verliert 20 Prozent ihres Wertes? Kein Problem, wird nachgekauft! Schließlich muss sie doch wieder steigen, oder? Das nennt sich dann »Durchschnittspreis verbessern« – ein euphemistischer Begriff für »dem schlechten Geld gutes hinterher zu werfen«.

Die Logik dahinter ist bestechend einfach und gleichzeitig völlig irrational: »Ich habe schon so viel verloren, jetzt kann ich nicht mehr verkaufen!« Dabei ignoriert man ganz elegant, dass vergangene Verluste keinerlei Einfluss auf zukünftige Kursentwicklungen haben. Die Börse interessiert sich nicht für persönliche Verlustgeschichten. Doch nüchtern lässt sich das so einfach jetzt sagen – in der Situation denkt man nicht so rational.

Der Wirecard-Reflex

Erinnerungen werden wach, bei all die treuen Wirecard-Aktionäre, die bis zum bitteren Ende dabei blieben. »Das Unternehmen ist doch innovativ!«, »Die Zahlen stimmen doch!«, »Das wird schon wieder!« Bis dann plötzlich gar nichts mehr da war. Ich kenne sehr viele Menschen, die hier auf diesen Zug aufgesprungen sind und diese »besondere Erinnerung« mit sich tragen. Oft wurde mir auch berichtet, dass es sich um ein DAX-Unternehmen handelte – das vermittelte nochmals Seriosität. Damals waren die Kriterien für die Aufnahme in den DAX wohl doch noch etwas, ich würde mal sagen – nachlässig.

Das Durchhalten als Tugend

Der Mythos der Beharrlichkeit

Unsere Gesellschaft liebt Durchhalteparolen. »Wer nicht kämpft, hat schon verloren!«, »Aufgeben ist keine Option!«, »Durchhalten macht stark!« Diese Mantras werden bereits in der Kindheit eingeimpft und sorgen dafür, dass Aufgeben als Schwäche gilt, während sinnloses Durchhalten als Charakterstärke gefeiert wird. Und an dieser Stelle ist unbedingt ein Umdenken erforderlich!

Es wird nämlich übersehen, dass strategisches Aufgeben oft die intelligentere Entscheidung ist. Ein Bergsteiger, der bei schlechtem Wetter umkehrt, ist nicht schwach – er ist klug. Ein Unternehmer, der ein aussichtsloses Projekt stoppt, ist nicht gescheitert – er hat Ressourcen für bessere Ideen freigemacht.

Die Angst vor dem sozialen Urteil

Was werden die anderen denken? Diese Frage ist der Todfeind rationaler Entscheidungen. Lieber wird ein dysfunktionales Projekt bis zum bitteren Ende durchgezogen, als sich dem Verdacht der Schwäche oder des Versagens auszusetzen. Ironischerweise führt genau diese Haltung oft erst zum echten Versagen.

Persönliche Betrachtungen

Berufliche Kehrtwenden

Auch ich bin der Sunk Cost Fallacy schon auf den Leim gegangen. Beruflich hing ich einmal an einem Projekt, das alle Anzeichen eines kommenden Desasters zeigte. Monate der Arbeit, unzählige Überstunden, viel Herzblut – alles schon investiert. Die vernünftige Entscheidung wäre gewesen, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen. Stattdessen wurde verbissen weitergemacht, bis das Projekt schließlich doch scheiterte – mit deutlich höheren Verlusten als bei einem früheren Ausstieg.

Die Lektion: Manchmal ist der Mut zum Neuanfang die wertvollste Investition, die man tätigen kann.

Private Wendepunkte

Auch privat gibt es diese Momente der Erkenntnis. Freundschaften, die seit Jahren nicht mehr funktionieren, aber aufrechterhalten werden, weil »man sich ja schon so lange kennt«. Hobbys, die längst keine Freude mehr bereiten, aber weiterverfolgt werden, weil schon so viel Zeit investiert wurde. Manchmal ist es befreiend zu erkennen: Es ist okay, loszulassen.

Die Kunst des strategischen Rückzugs

Irgendwann habe ich mal folgende weisen Worte gehört, aber ich kann mich nicht mehr an die genaue Quelle und den Wortlaut erinnern: »Der Unterschied zwischen Sturheit und Beharrlichkeit liegt darin, ob man noch einen Plan hat oder nur noch hofft.« Diese Worte haben sich als erstaunlich wertvoll erwiesen. Wenn aus strategischem Handeln blindes Hoffen wird, ist es Zeit für einen ehrlichen Realitätscheck.

Die Psychologie des Festhaltens

Der Spielverderber

Unser Gehirn ist ein Meister im Schönreden schlechter Entscheidungen. Psychologen nennen das kognitive Dissonanz: den unangenehmen Zustand, wenn Handlungen und Überzeugungen nicht zusammenpassen. Um dies zu reduzieren, erfindet unser Geist die kreativsten Rechtfertigungen.

Beispiele wären da: »Das Restaurant war gar nicht so schlecht, das Ambiente war ja ganz nett.« oder »Der Film hatte durchaus interessante Momente.« und natürlich darf auch diese Äußerung nicht fehlen: »Die Aktie ist nur vorübergehend schwach, das ist eine gute Kaufgelegenheit.« So funktioniert das menschliche Gehirn: Lieber wird die Realität verbogen, als ein Fehler eingestanden.

Wenn Verluste schwerer wiegen

Ein weiterer Mechanismus ist die Verlustaversion. Jetzt wird es etwas speziell, aber ich hole nicht so weit aus: Verluste schmerzen etwa doppelt so stark wie Gewinne erfreuen. Das führt dazu, dass Menschen irrationale Risiken eingehen, um Verluste zu vermeiden – selbst wenn dadurch die Verluste nur noch größer werden.

Der konstante Typ

Menschen wollen konsistent erscheinen, sich selbst und anderen gegenüber. Wer einmal eine Entscheidung getroffen hat, möchte nicht als wankelmütig dastehen. Dieser Wunsch nach Konsistenz kann jedoch zur Falle werden, wenn er dazu führt, an schlechten Entscheidungen festzuhalten.

Auswege aus der Kostenfalle

Regel Nummer 1: Unsicherheit umarmen

Der erste Schritt zur Befreiung ist das Eingeständnis: Es ist völlig normal, sich bei schwierigen Entscheidungen unsicher zu fühlen. Diese Unsicherheit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Intelligenz. Wer alles immer ganz sicher weiß, hat entweder zu wenig Informationen oder zu wenig Fantasie.

Regel Nummer 2: Verluste als Lektionen sehen

Verluste sind nicht das Ende der Welt, sondern Lehrgeld für die Zukunft. Jeder Fehlentscheidung wohnt eine Lektion inne – vorausgesetzt, man ist bereit, sie zu lernen. Wer seine Verluste leugnet oder schönredet, verpasst die Chance auf Erkenntnisgewinn.

Die Vorwärts-Strategie

Anstatt zurückzublicken und vergangene Investitionen zu beklagen, sollte der Fokus auf die Zukunft gerichtet werden. Die entscheidende Frage lautet nicht: »Was habe ich bereits investiert?«, sondern: »Was sind meine Optionen von hier aus?«

Die Befreiung durch bewusstes Loslassen

Neue Wege wagen

Es ist paradox: Oft führt gerade das Aufgeben zu den größten Erfolgen. Wer den Mut fasst, einen aussichtslosen Weg zu verlassen, macht Ressourcen frei für neue, vielversprechendere Unternehmungen. Das gilt für Karrieren genauso wie für Beziehungen, Projekte oder Investments.

Die Schönheit des Neuanfangs

Ein Neuanfang hat etwas Magisches. Er bietet die Chance, aus Fehlern zu lernen, Erfahrungen zu nutzen und es diesmal besser zu machen. Wer in der Sunk Cost Fallacy gefangen ist, beraubt sich dieser Möglichkeit.

Ein Plädoyer für mehr Rationalität

Emotionen vs. Logik

Menschen sind emotionale Wesen, und das ist auch gut so. Aber bei wichtigen Entscheidungen sollten Emotionen beraten, nicht regieren. Die Angst vor Verlusten, der Wunsch nach Konsistenz, die Furcht vor sozialer Missbilligung – all das sind nachvollziehbare Gefühle. Sie sollten aber nicht die einzigen Entscheidungskriterien sein.

Die Kunst der rationalen Analyse

Eine einfache Übung kann helfen: Bei jeder wichtigen Entscheidung die vergangenen Investitionen mental auf null setzen und fragen: »Würde ich dieses Projekt heute von vorne beginnen?« Lautet die Antwort »Nein«, ist es vermutlich Zeit für einen Strategiewechsel.

Ein liebevolles Fazit

Die menschliche Seite der Irrationalität

Die Sunk Cost Fallacy zu verstehen bedeutet nicht, sie vollständig vermeiden zu können. Wir sind Menschen, keine Computer. Emotionen, Hoffnungen und Ängste gehören zu uns. Aber wir können lernen, diese menschlichen Schwächen zu erkennen und ihre Auswirkungen zu begrenzen.

Mut zur Unperfektion

Vielleicht ist die wichtigste Lektion diese: Es ist vollkommen in Ordnung, Fehler zu machen. Es ist sogar in Ordnung, große Fehler zu machen. Nicht in Ordnung ist es, aus falscher Scham oder trotziger Sturheit bei diesen Fehlern zu verharren, wenn ein besserer Weg erkennbar wird.

Die hohe Kunst des eleganten Rückzugs

In einer Gesellschaft, die »Niemals aufgeben!« wie ein Mantra vor sich herträgt und Durchhalteparolen sammelt wie andere Briefmarken, wirkt strategisches Aufgeben fast schon subversiv. Dabei ist es oft die cleverste aller Rebellionen: der Aufstand gegen die eigene Sturheit.

Rechtzeitiges Aufgeben verlangt nämlich eine bemerkenswerte Sammlung menschlicher Fähigkeiten: Selbstreflexion (!), schonungslose Ehrlichkeit (!!) und die charmante Bereitschaft, sich von den süßen kleinen Lügen zu verabschieden, die wir uns so gerne erzählen. »Nur noch ein bisschen länger, dann wird’s bestimmt… « – kennen wir alle, nicht wahr?

Die Sunk Cost Fallacy bleibt unser treuer, wenn auch etwas masochistischer Begleiter. Sie klebt an uns wie ein schlecht gemachtes Tattoo aus Jugendtagen – peinlich, aber irgendwie auch Teil unserer Geschichte. Der Trick liegt darin, sie zu erkennen, bevor sie uns wieder in ihre warmen, teuren Arme schließt.

Und wer weiß? Vielleicht entpuppt sich so mancher elegante Rückzug als getarnter Vormarsch in Richtung etwas Wundervollem, das wir in unserer heroischen Verbissenheit nie gesehen hätten. Manchmal ist der klügste Schritt nach vorne tatsächlich einer zurück – und das darf man ruhig mit einem verschmitzten Lächeln zur Kenntnis nehmen.

© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt