Wie man (vielleicht) 100 Jahre alt wird
In meinem Leben habe ich schon oft darüber nachgedacht, warum wir Europäer eine Lebenserwartung von durchschnittlich 80 Jahren haben. Ich meine, das ist ja schon ein richtiges Geschenk, wenn wir berücksichtigen, dass vor einigen hundert Jahren die Menschen gerade einmal halb so alt geworden sind. Und das lag nicht an dem sogenannten Säbelzahntiger, der hinter einem Gebüsch lauerte, sondern oft wurden die Menschen durch Infektionskrankheiten heimgesucht, es gab eine schlechte medizinische Versorgung und die hohe Kindersterblichkeit war auch ein sehr großes Problem. Über dieses Thema machte ich mir neulich intensive Gedanken, als sich mir ein Werbeplakat aufdrängte.
Vom Zufall zur Faszination: Begegnung mit den Hundertjährigen
Es war einer dieser routinierten Tage, an denen man seine alltäglichen Wege geht und eigentlich nichts Weltbewegendes erwartet. Ich saß in der S-Bahn, gelangweilt schaute ich aus dem Fenster und sah plötzlich ein Werbeplakat, das meine Aufmerksamkeit erregte: »Werden Sie 100 Jahre alt wie die Menschen in den Blue Zones!« Mit großen Buchstaben prangte dieses Versprechen über dem Bild eines faltigen, aber erstaunlich vitalen alten Mannes, der mit einem Lächeln im Gesicht einen steilen Berghang hinaufwanderte. Daneben warb ein Unternehmen für Gesundheitsmanagement für ein einwöchiges Seminar, das offenbar das Geheimnis ewigen Lebens für die bescheidene Summe von 1.999,- Euro weitergeben wollte. Das Ganze war garniert mit dem Slogan: »Leben Sie wie die Menschen in den Blue Zones und erreichen Sie mühelos ein Alter von 100 Jahren!« Weiter unten waren glückliche Seminarteilnehmer zu sehen, die Smoothies tranken und auf Yogamatten saßen – offenbar der direkte Weg zum hundertjährigen Dasein. Ich dachte im ersten Augenblick, dass die Blue Zones vielleicht eine neue Partyinsel sind, aber mit exzessiven Feiern ist noch niemand alt geworden und nach einer wirklich frivolen Fete kann zudem keiner mehr vital einen Berg hinaufsteigen.
Was sind die »Blue Zones«?
Bis zu diesem Moment hatte ich noch nie etwas von »Blue Zones« gehört. Bei meiner weiteren Fahrt überlegte ich, dass das vielleicht ein Marketingteam erfunden hat, nachdem »Green Living« und »Mindfulness« nicht mehr genug Klicks generierten. »In den fünf Blue Zones der Welt leben Menschen länger und gesünder als irgendwo sonst auf dem Planeten«, fand ich heraus, als ich zuhause angekommen dem Rätsel gewissenhaft auf die Spur ging. Der Kaffee in meiner Tasse neben mir kühlte langsam ab, während ich in die Welt der Blue Zones eintauchte.
Geographiestunde: Wo liegen diese mysteriösen blauen Zonen?
Nach einigem Herumklicken – nein, ich habe das Seminar nicht gebucht, ich mag mein Geld zu sehr – stellte sich heraus, dass »Blue Zones« tatsächlich ein reales Phänomen sind. Der Begriff wurde vom Demografen Michel Poulain und dem Journalisten Dan Buettner geprägt, die auf der Welt Regionen identifizierten, in denen Menschen überdurchschnittlich alt werden.
Diese Regionen sind:
- Okinawa in Japan, wo alte Menschen scheinbar vergessen zu sterben und stattdessen ihre Tage damit verbringen, Gemüse anzubauen und zu tanzen, während ich schon außer Atem bin, wenn ich das Gemüse nur mal in der Küche schnippele.
- Die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica, wo Menschen in ihren Neunzigern noch Bäume fällen und Mais ernten.
- Sardinien in Italien, insbesondere die Bergregion Barbagia, wo 90-jährige Hirten noch immer über felsige Pfade wandern und dabei wahrscheinlich weniger keuchen als ich, wenn ich mal einem zu früh kommenden Bus hinterherlaufen muss.
- Ikaria in Griechenland, eine Insel, auf der die Menschen offenbar so beschäftigt mit dem Leben sind – mit Wein trinken, tanzen und das Meer genießen –, dass sie keine Zeit zum Altern haben.
- Und schließlich Loma Linda in Kalifornien, wo eine Gemeinschaft von Siebenten-Tags-Adventisten etwa zehn Jahre länger lebt als der durchschnittliche Amerikaner (was ehrlich gesagt nicht besonders beeindruckend ist, wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Amerikaner sich von Dingen ernährt, die in der Natur nicht vorkommen und mehr Zusatzstoffe als Nährstoffe enthalten).
Je mehr ich las, desto faszinierter wurde ich. Da draußen lebten Menschen routinemäßig bis in ihre Neunziger und Hunderter, und zwar nicht in Pflegeheimen an Maschinen angeschlossen, sondern aktiv, selbstständig und – wenn man den Bildern glauben darf – mit verdächtig wenigen Falten für ihr Alter.
Das Geheimnis des langen Lebens
Was haben diese Orte gemeinsam? Nach allem, was ich herausgefunden habe, leben die Menschen dort nach Prinzipien, die viele Großmütter ihren Enkeln immer wieder monoton vorpredigen: »Iss dein Gemüse, geh raus spielen und hör auf, so viel Zeit vor dieser Glotze zu verbringen!«
Die Ernährung in den Blue Zones ist hauptsächlich pflanzlich – viel Gemüse, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte und wenig Fleisch. In Okinawa folgt man dem Prinzip »Hara hachi bu«, was bedeutet, dass man aufhört zu essen, wenn man zu 80% satt ist. Im Gegensatz dazu erkenne ich mich leider gleich wieder und merke, dass ich da schon den ersten Fehler mache. Ich denke mir oft: »Hara komplett voll, und dann noch Nachtisch – ist ja da, muss ja weg.«
Bewegung ist ein natürlicher Teil des Alltags. Kein künstliches Workout im Fitnessstudio mit überteuerter Sportkleidung und Trainern, die so aussehen, als wären sie aus Granit gemeißelt. Nein, diese Menschen bewegen sich einfach, weil ihr Leben es erfordert – sie gehen zu Fuß, bearbeiten Gärten, steigen Treppen, und wahrscheinlich keiner von ihnen hat je eine Fitness-App benutzt, um zu zählen, wie viele Schritte sie gemacht haben.
Sie haben starke soziale Bindungen – Familie und Gemeinschaft stehen im Mittelpunkt. In Sardinien leben mehrere Generationen unter einem Dach oder zumindest in der Nähe, und ältere Menschen sind respektierte Mitglieder der Gemeinschaft, nicht vergessene Relikte, die man zweimal im Jahr zu Weihnachten und Geburtstagen besucht. Es gibt keinen einsamen Serien-Marathon mit einem Dutzend Staffeln bis tief in die Nacht, bei dem die Serie meist so endet, wie sie angefangen hat und dazwischen nur ein Jahrzehnt vergangen ist.
Sie leben mit einem Sinn, einem »Ikigai« wie die Japaner sagen – ein Grund, morgens aufzustehen. Das kann die Fürsorge für die Familie sein, ein Garten, der gepflegt werden muss, oder eine Rolle in der Gemeinschaft. Selbstverständlich zählt hier nicht »die nächste Staffel einer Serie anschauen« als sinnstiftendes Lebensziel.
Und sie scheinen weniger Stress zu haben, oder zumindest einen anderen Umgang damit. In Ikaria zum Beispiel machen sie regelmäßig Mittagsschlaf und trinken Kräutertees, die angeblich Stress reduzieren. Klingt definitiv besser als die Methode vieler meiner Freunde, die wie folgt Stress bekämpfen: Drei Espressi hintereinander trinken und sich dann wundern, warum sie nachts nicht schlafen können.
Ein Blick in den Blue-Zone-Alltag vs. Realität
Stellen wir uns einen typischen Tag in einer Blue Zone vor: Frühes Aufstehen mit der Sonne, vielleicht eine leichte Stretching-Routine oder Meditation. Frühstück mit frischen Früchten und selbstgebackenem Vollkornbrot. Ein Tag voller bedeutungsvoller Arbeit im Freien, unterbrochen von Gesprächen mit Nachbarn und Familie. Ein gemeinsames Mittagessen, gefolgt von einem kurzen Mittagsschlaf. Nachmittags vielleicht etwas leichtere Arbeit oder Handwerk, ein Spaziergang zum Markt. Abends ein gemeinsames Essen mit der Familie, vielleicht ein Glas lokalen Wein (die Sarden und Ikarianer schwören darauf), früh ins Bett gehen und tief und erholsam schlafen.
Nun zu einem typischen Tag eines Europäers: Der Wecker klingelt. Er drückt Snooze. Fünfmal. In Panik springt er auf, weil er zu spät dran ist. Schnell wird ein Kaffee reingekippt, der stark genug ist, um Farbe von den Wänden zu lösen. Zur Arbeit hetzen, wo die meisten fast den ganzen Tag auf einen Bildschirm starren, während der Körper langsam die Form des Bürostuhls annimmt. Mittagessen am Schreibtisch, oft etwas, das in Plastik eingewickelt und in einer Mikrowelle erhitzt wurde. Nach der Arbeit zu müde für Sport, also Pizza bestellen und vor dem Fernseher einschlafen, nur um kurz nach Mitternacht aufzuwachen und festzustellen, dass man noch immer angezogen ist und die Zähne nicht geputzt hat. Vielleicht etwas überspitzt, aber was klar deutlich wird: Gewisse Unterschiede sind gut zu erkennen!
Kann ich auch 100 werden, obwohl ich nicht in einer Blue Zone lebe?
Die große Frage: Kann ich diese Lebensweise auch in meinem Alltag umsetzen, fernab von griechischen Inseln und japanischen Dörfern? Kann ich die Blue-Zone-Prinzipien in ein Leben integrieren, das sich größtenteils in klimatisierten Räumen abspielt und in dem die größte körperliche Herausforderung darin besteht, die Fernbedienung zu finden, wenn sie zwischen den Sofakissen verschwunden ist?
Theoretisch ja. Praktisch… nun ja. Es ist kompliziert. Ich könnte anfangen, mehr Gemüse zu essen. Das Auto sollte ich öfter mal stehen lassen und mehr zu Fuß gehen. Es wäre wichtiger Freunde öfter zu treffen statt auf Instagram zu checken, was sie machen. Ich könnte versuchen, einen tieferen Sinn in meinem Leben zu finden als die Jagd nach Likes und die perfekte Netflix-Watchlist.
Aber seien wir ehrlich: Wenn es so einfach wäre, würden wir alle bereits nach diesen Prinzipien leben. Die Realität sieht für die meisten von uns anders aus. Wir arbeiten in Büros mit künstlichem Licht, verbringen Stunden im Sitzen, hetzen durch den Tag, stressen uns wegen Deadlines und Hypotheken und belohnen uns abends mit einem Glas Wein (okay, das machen die Blue-Zoner auch) und etwas, das definitiv nicht aus dem Gemüsefach des Kühlschranks stammt.
Die Blue-Zone-Bewohner leben in Umgebungen, die ein gesundes Leben fördern – sie haben nicht täglich gegen Versuchungen anzukämpfen, die an jeder Straßenecke lauern. Sie müssen nicht aktiv gegen den Strom schwimmen, um gesund zu leben – es ist einfach ihre Lebensrealität. Ich hingegen muss mich jeden Tag aktiv entscheiden, nicht einen Pfannkuchen zum Frühstück zu essen, auch wenn die Bäckerei auf dem Weg zur Arbeit liegt und so verführerisch duftet, dass ich fast gegen die Scheibe laufe.
Außerdem leben sie in Gemeinschaften, die ihre Lebensweise unterstützen. Wenn alle um dich herum um 6 Uhr aufstehen, gesund essen und regelmäßig spazieren gehen, ist es viel leichter, dasselbe zu tun. Wenn alle in deinem Umfeld bis Mitternacht Fernsehen schauen und von Fast Food leben, wird der Weg zur 100 deutlich steiniger.
Das kleine Problem mit der 100-Jahre-Garantie
Was mich an der ganzen Blue-Zone-Begeisterung etwas skeptisch macht, ist dieses Versprechen vom hundertjährigen Leben – als wäre es ein Produkt, das man kaufen könnte. »Folgen Sie diesen fünf einfachen Schritten und werden Sie garantiert 100!« Klingt ein bisschen wie die Werbung für einen Staubsauger, der nie seine Saugkraft verliert, oder eine Diät, bei der man essen kann, was man will, und trotzdem abnimmt.
Das ist natürlich Quatsch. Wir können unsere Chancen verbessern, gesund alt zu werden, aber eine Garantie gibt es nicht. Gene spielen eine Rolle und natürlich auch das Glück oder nennen wir es mal Schicksal. Manchmal wird man einfach von einer herabfallenden Kokosnuss erschlagen, egal wie gesund man lebt (das ist tatsächlich eine Todesursache in manchen Regionen, die ich ebenfalls bei meiner Recherche gefunden habe).
Außerdem: Will ich wirklich 100 werden? Das kommt ganz darauf an, wie diese Jahre aussehen. 100 werden und dabei gesund, selbstständig und geistig fit sein – ja, gerne! 100 werden und die letzten 20 Jahre in einem Zustand verbringen, in dem ich nicht mehr weiß, wer ich bin oder wer die Menschen um mich herum sind – nein danke. Qualität über Quantität.
Und dann ist da noch die Frage der Wirtschaftlichkeit: Wenn wir alle plötzlich anfangen würden, bis 100 zu leben, müssten wir vermutlich auch bis 85 arbeiten. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Traum ist, den ich verfolge – 65 Jahre Arbeitsleben statt 40, nur um dann 15 Jahre lang Rentner zu sein? Mein Schreibtischstuhl ist nicht mal bequem genug für einen 8-Stunden-Tag, geschweige denn für weitere 25 Jahre.
Was ich aus der ganzen Blue-Zone-Sache mitnehme
Nach all meinen Recherchen und Überlegungen komme ich zu dem Schluss, dass die Blue Zones kein magisches Rezept für ein hundertjähriges Leben bieten, aber durchaus einige vernünftige Hinweise geben, wie man gesünder und vielleicht auch glücklicher leben kann.
Ich werde nicht mein gesamtes Leben umkrempeln und nach Sardinien ziehen (obwohl das Wetter dort sicherlich besser ist als hier, und ich hätte nichts gegen frische Pasta und Wein jeden Tag einzuwenden). Ich werde auch nicht plötzlich anfangen, täglich Berge zu besteigen oder nur noch Gemüse zu essen, das ich selbst angebaut habe.
Aber vielleicht nehme ich mir ein paar der Prinzipien zu Herzen:
- Ein bisschen mehr zu Fuß gehen und ein bisschen weniger im Auto sitzen. Vielleicht nicht gleich den Marathon laufen, aber zumindest ab und zu die Treppe statt den Aufzug nehmen – auch wenn ich danach klinge wie ein asthmatischer Bulldozer.
- Öfter mal einen Salat essen. Jedenfalls sollte es wirklich jeder versuchen.
- Mehr Zeit mit Menschen verbringen, die einem wichtig sind, und weniger Zeit mit dem eigenen Smartphone.
- Versuchen, einen Sinn im Leben zu finden, der über den nächsten Gehaltscheck oder die nächste Streaming-Premiere hinausgeht. Etwas, das mir morgens Motivation gibt aufzustehen, außer der Angst, gefeuert zu werden, wenn ich wieder zu spät komme.
- Und vielleicht, nur vielleicht, ab und zu mal einen Mittagsschlaf einlegen – die Ikarianer schwören darauf, und wer bin ich, einer ganzen Insel voller Hundertjähriger zu widersprechen?
Ob ich damit 100 werde? Keine Ahnung. Aber vielleicht macht es die Jahre, die ich habe, etwas besser. Und das ist doch auch schon etwas wert – ganz ohne teure Seminare und überzogene Versprechen.
Also, meine Motivation ist jetzt auf dem höchsten Punkt – ich muss dringend ein paar Hülsenfrüchte kaufen gehen. Zu Fuß natürlich. Und vielleicht einen kleinen Umweg durch den Park machen. Man kann ja nie früh genug anfangen mit diesem Blue-Zone-Leben. Oder zumindest so tun, als würde man es versuchen, während man heimlich plant, auf dem Rückweg beim Bäcker vorbeizuschauen. Denn wenn ich ehrlich bin: Ein Leben bis 100 ohne gelegentlichen Schokocroissant klingt für mich wie die falsche Art von Unsterblichkeit.
© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt