Eine Expedition ins Herz menschlicher Absurdität
Diese Woche gönnte ich mir das zweifelhafte Vergnügen einer ausgedehnten Autobahnfahrt – und was ich dabei an menschlichen Eigenarten beobachten durfte, hat mich zwischen ungläubigem Staunen und resigniertem Kopfschütteln pendeln lassen. Selbst die Wackeldackel auf den Heckablagen vorbeiziehender Autos nickten mir verständnisvoll zu.
Was als harmlose Autobahnfahrt begann, entpuppte sich als ethnologische Expedition in die Untiefen deutscher Verkehrskultur – eine Feldforschung der besonderen Art, bei der ich hautnah miterleben durfte, wie sich die Spezies Homo sapiens hinter dem Steuer in ihre ursprünglichsten Instinkte zurückverwandelt. Das surreale Schauspiel menschlicher Eigenarten, das sich mir darbot, erklärt vermutlich auch, warum intelligente Lebensformen aus dem All unseren blauen Planeten lieber weiträumig umkreisen.
Das große Blinker-Mysterium
Manche Dinge akzeptiere ich mittlerweile als unvermeidlich, so wie Regenwetter im Urlaub. Der deutsche Umgang mit dem Blinker zählt eindeutig auch dazu. Seinen Höhepunkt erreicht es nicht beim spontanen Einparken mitten auf der Hauptstraße, sondern auf der Autobahn – dort offenbart sich mir gleich ein faszinierendes Ökosystem aus drei unterschiedlichen Spezies.
Erste Gattung: der Überraschungswechsler. Sie sind beim Spurwechsel so überrascht von ihrer eigenen Entscheidung, dass sie vergessen zu blinken – schließlich war es ja auch für sie selbst eine spontane Eingebung, vermutlich ausgelöst durch einen vorbeifliegenden Schmetterling oder dem plötzlichen Gedanken an das Abendessen.
Am anderen Ende des Spektrums tummeln sich die Dauerblinker, die seit der letzten Ausfahrt vor fünfzehn Kilometern unermüdlich rechts blinken. Möglicherweise senden sie Morse-Signale an Außerirdische oder verwandeln die Autobahn in eine Art rollenden Weihnachtsbaum. Ich vermute, sie haben längst vergessen, dass sie überhaupt noch fahren und wähnen sich in einem besonders realistischen Fahrsimulator.
Und dann gibt es noch meine Lieblingskategorie: die Blinker-Philosophen. Diese effizienzbesessenen Zeitgenossen sind fest davon überzeugt, dass einmal kurz blinken für die nächsten drei Spurwechsel reicht. Schließlich ist Sparsamkeit eine deutsche Tugend – warum sollte man für jeden Spurwechsel neu blinken, wenn man es auch im Dreierpack abhandeln kann? Eine Art Mengenrabatt für Verkehrsregeln, sozusagen.
Die professionellen Lückenfüller
Was mich zur kompletten Raserei treibt – und Raserei ist noch eine charmante Untertreibung für die brodelnde Verzweiflung, die mich befällt – sind diese verdammten Lückenfüller. Kaum entsteht zwischen mir und dem Vordermann ein winziger Freiraum, schnalzt da auch schon ein Heck wie ein Gummiband hinein. Als hätte jemand ein militärisches Überwachungssystem installiert, das nackte Straße sofort mit Blech verstopft.
Ich lasse bewusst eine Lücke zum Vordermann. Nicht etwa aus Langeweile oder weil mir der deutsche Asphalt zu großzügig bemessen erscheint, sondern weil ich diesem völlig abwegigen Gedanken anhänge, im Notfall bremsen zu können, ohne dem Vordermann eine unfreiwillige Stoßstangenmassage zu verpassen. Diese »Halber-Tacho«-Regel ist mir längst ins Mark übergegangen: Abstand in Metern gleich halbe Geschwindigkeit in km/h. Eigentlich ganz simpel.
Doch was geschieht? Kaum klafft da eine Lücke, wird sie mit der Präzision einer Schweizer Atomuhr von einscherenden Fahrzeugen wieder gestopft. Freier Asphalt scheint bei manchen eine allergische Reaktion auszulösen. »Himmel!«, scheinen sie zu hyperventilieren, »da ist ja Platz! Das ist ein Skandal! Schnell rein da, bevor noch jemand auf die perverse Idee kommt, Sicherheitsabstände hätten irgendeinen Zweck!«
Und so muss ich mich wieder zurückfallen lassen, weil der Typ vor mir praktisch schon den Mietvertrag für meine Stoßstange unterschrieben hat. Ich schaffe Platz, andere verschlingen ihn sofort. Ein Teufelskreis, der mich langsam aber sicher zermürbt.
Die Mittelspur-Philosophie entschlüsselt
Und jetzt kommen wir zum eigentlichen Grund, warum ich diesen Beitrag schreiben musste, bevor mein Gehirn vor lauter Fassungslosigkeit kollabiert: der 80-km/h-Fahrer auf der Mittelspur. Seit Jahren beobachte ich dieses Phänomen, und es wird nicht besser – im Gegenteil, es scheint sich zu einem regelrechten Volkssport entwickelt zu haben.
Es liegt nicht daran, dass unser Mittelspur-Held nicht rechts fahren könnte – die rechte Spur ist so leer wie ein Hotel in der Nebensaison. Mein Mittelspur-Mystiker scheint bereits in eine höhere Bewusstseinsebene transformiert zu sein, wo Verkehrsregeln nur noch höfliche Empfehlungen sind. »Ich fahre hier perfekt«, lautet offenbar sein innerer Monolog, »denn ich bin schneller als die LKW rechts und langsamer als die Irren links. Ich bin die goldene Mitte, die Verkörperung deutscher Besonnenheit, der asphaltierte Dalai Lama!«
Was dieser Zen-Meister des Mittelstreifens aber geflissentlich übersieht – vermutlich sind seine Spiegel nur dekoratives Beiwerk: Rechts gähnt kilometerweit die Leere, diese Spur ist verlassener als ein Volksfest bei Starkregen. Und links braut sich eine Kolonne mordlüsterner Autofahrer zusammen, in der auch ich stehe und langsam aber sicher den Verstand verliere.
Das Elefantenrennen wissenschaftlich betrachtet
Nachdem der Mittelspur-Virtuose seine einsame Performance abgeliefert hat und ich derweil auf einer zweispurigen Autobahn gelandet bin (selbstverständlich noch nicht modernisiert), ereignet sich ein Spektakel, das Darwin vermutlich dazu gebracht hätte, seine gesamte Evolutionstheorie zu überdenken und stattdessen ein Buch über die Devolution zu schreiben: das berühmte Elefantenrennen.
Zwei LKW, beide mit der aerodynamischen Eleganz eines Kühlschranks und der Beschleunigung einer arthritischen Schildkröte auf Beruhigungsmitteln, führen ein Überholmanöver durch, das länger dauert als so mancher Hollywood-Film – und deutlich weniger Spannung bietet als das Trocknen von Farbe.
LKW Nummer eins denkt sich: »Ich fahre 79,8 km/h, der vor mir nur 79,4 km/h – Zeit für eine Überholaktion der Superlative!« Was folgt, ist ein zehnminütiges Drama in drei Akten:
Akt eins – das zögerliche Ausscheren, begleitet von theatralischem Blinken.
Akt zwei – das quälend langsame Aufholen von zwei Zentimetern pro Minute, während die Zeit stillzustehen scheint.
Akt drei – das triumphale Wiedereinscheren, nachdem eine Kolonne von fünfzig PKW Zeit hatte, über die Sinnhaftigkeit des Lebens zu philosophieren, Kreuzworträtsel zu lösen oder eine kleine Sprache zu erlernen.
Der Fahrer des überholten LKW zeigt währenddessen die stoische Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs im Dauerstress. Er hat vermutlich längst akzeptiert, dass er die nächsten acht Minuten seines Lebens dabei zusehen wird, wie ihm jemand mit der Geschwindigkeit eines wachsenden Fingernagels vorbeifährt. Vielleicht nutzt er die Zeit für Atemübungen, überlegt sich, ob er nicht doch hätte Bibliothekar werden sollen, oder komponiert in Gedanken seine Memoiren.
Selbstverständlich bremst er auch nicht etwas ab, damit der Überholvorgang schneller geht – das wäre ja viel zu kooperativ und würde dem deutschen Prinzip widersprechen, dass jeder stur seine Geschwindigkeit fährt, egal was um ihn herum passiert.
Rettungsgassen? Nie gehört!
Ich war schon fast zuhause, der Kaffeevollautomat war gedanklich schon eingeschaltet, als der Verkehr plötzlich zäher wurde, dann stockte und schließlich komplett zum Erliegen kam. In solchen Momenten offenbart sich eine besonders charmante Eigenart deutscher Autofahrer: die kategorische Weigerung, Rettungsgassen zu bilden.
Manche scheinen das als persönlichen Affront zu betrachten. »Warum sollte ich Platz machen?«, muss ihr Gedankengang lauten, »ich stehe hier auch schon eine Ewigkeit! Die sollen sich gefälligst hinten anstellen – wie alle anderen auch.« Als würden Herzinfarkte und Unfälle nach dem Prinzip der Bäckerei-Warteschlange funktionieren.
Noch kreativer sind jene, die eine tatsächlich entstehende Rettungsgasse als persönliche Einladung verstehen. Plötzlich erwacht der schlummernde Rennfahrer in ihnen, und die freie Spur mutiert zur exklusiven VIP-Überholmöglichkeit. »Endlich eine Spur nur für mich!«, scheinen sie zu jubeln, »das habe ich mir nach diesem ewigen Stillstand redlich verdient!«
Dass diese Gasse eigentlich für Rettungswagen gedacht ist? Ein Nebendetail von etwa derselben Relevanz wie die Paarungsrituale des Schnabeltiers während einer Mondfinsternis.
Anarchisten auf freier Wildbahn
In diesem bunten Reigen automobiler Absurditäten dürfen natürlich auch die Geschwindigkeits-Anarchisten nicht fehlen. Diese faszinierenden Wesen haben das Verkehrsregelwerk in eine Art Vorschlagssammlung uminterpretiert – nette Ideen für andere, aber gewiss nicht bindend für sie selbst.
Sie fahren 140 km/h dort, wo 80 erlaubt sind, als würden sie für eine Zeitreise-Expedition trainieren. Und dann, in einem rätselhaften Sinneswandel, fahren sie 60 km/h dort, wo kein Limit herrscht, vermutlich weil sie plötzlich die Schönheit der Landschaft entdeckt haben oder spontan beschlossen haben, Kraftstoff zu sparen.
Besonders beeindruckend sind jene, die auf der Autobahn 200 km/h fahren und dann an der Autobahnausfahrt mit 80 km/h in die 30er-Zone eindonnern, als hätten sie gerade entdeckt, dass Bremsen eine völlig optionale Funktion ihres Autos ist. Sie behandeln Geschwindigkeitsbegrenzungen wie Wettervorhersagen – interessant, aber nicht besonders bindend.
Handy-Akrobaten der Moderne
Während all diese Verkehrsballette aufgeführt werden, beobachte ich besonders häufig die Künstlergruppe der Handy-Akrobaten. Diese beeindruckenden Multitasking-Genies haben das Unmögliche möglich gemacht und schaffen es, gleichzeitig zu fahren, zu telefonieren, WhatsApp-Nachrichten zu tippen, ihre Instagram-Stories zu checken und vermutlich noch eine Lebensmittellieferung online zu bestellen.
Sie haben das Autofahren zu einer Art Nebentätigkeit degradiert – so wie andere Leute beim Fernsehen nebenbei stricken oder beim Joggen Podcasts hören. Das Steuer wird mit dem Knie gelenkt, während beide Hände wichtigeren Dingen gewidmet sind, wie dem Fotografieren des Mittagessens für Instagram oder dem Kommentieren eines Facebook-Posts über Verkehrssicherheit – die Ironie ist so dick, dass man sie mit dem Messer schneiden könnte.
Die Parkplatz-Strategen und ihre Raumwunder
An Rastplätzen tobt der stille Krieg um Zentimeter, und die Teilnehmer scheinen ihre Fahrzeuge mit völlig anderen Augen zu sehen als der Rest der Welt. SUV-Piloten landen ihre Straßenpanzer quer über drei Plätze, als bräuchten sie eine Start- und Landebahn statt einer simplen Parklücke. Vermutlich leiden sie an automobiler Größenblindheit und halten ihr rollendes Wohnzimmer für einen Sattelzug.
Kompaktwagenfahrer dagegen praktizieren Tetris in Lebensgröße und zwängen sich mit chirurgischer Präzision in Lücken, die selbst ein Motorrad herausfordernd fände. Ihr Glaube an die Dehnbarkeit der Physik ist rührend naiv.
Die wahren Meister aber sind jene Parkkünstler, die so präzise daneben stehen, dass Nachbarn nur noch mit Yoga-Verrenkungen und Zen-Geduld ins Auto gelangen. Sie haben passive Aggression zur hohen Kunst erhoben – warum direkt streiten, wenn man auch elegant über Parkgeometrie nerven kann?
Das Ende aller Hoffnung
Nach stundenlanger Beobachtung dieses automobilen Theaters stellt sich die finale Frage: Ist die deutsche Autobahn ein Abbild unserer Gesellschaft oder ein Experimentierfeld für menschliche Absurditäten? Die Antwort ist vermutlich so deprimierend wie erhellend: Es ist beides gleichzeitig.
Hier zeigt sich der Deutsche in seiner ganzen Widersprüchlichkeit: regelbesessen und chaotisch, gründlich und nachlässig, rücksichtsvoll und egoistisch – alles zur gleichen Zeit, nur eben mit 80 km/h auf der Mittelspur und dem festen Glauben, das Rechtsfahrgebot sei eine Empfehlung für andere.
Die Autobahn ist ein Spiegelkabinett. Dreht man das Licht auf, sieht man nicht Gladiatoren, sondern Primaten mit TÜV-Plakette. Mehr nicht. Und während unser Mittelspur-Philosoph weiterhin stoisch seine 80 km/h fährt und dabei das Rechtsfahrgebot ignoriert wie ein Veganer eine Wursttheke, rast die Zeit an ihm vorbei – genau wie alle anderen Verkehrsteilnehmer auch.
Eine Bitte hätte ich dann aber doch noch: Falls jemand einen Mittelspur-Fahrer davon überzeugen kann, doch mal rechts zu fahren – das wäre dann vermutlich nobelpreisverdächtig. Mindestens. Oder zumindest einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde wert als das erste dokumentierte Wunder der modernen Verkehrsgeschichte.
© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt