Der ungebettene Gast

Niemand hatte ihn eingeladen, diesen kleinen asiatischen Falter. Und doch war er eines Tages einfach da – der Buchsbaumzünsler, ein heimlicher Eindringling mit grenzenlosem Appetit. Arglos schlich er sich nicht nur in meinen, sondern in nahezu alle gepflegten Gärten Europas. So unscheinbar er mit seinen perlmuttweißen Flügeln und dem dunklen Saum als exotische Schönheit auch wirken mag, seine Mission ist umso zerstörerischer.

Lebende Mauern

In fast jedem Garten stand einst die prächtige Buchsbaumhecke wie eine lebende Mauer, das Ergebnis jahrzehntelanger Pflege. Besonders die glänzenden Blätter sind ein perfektes Versteck für Vögel und bilden ein Labyrinth für kleine Insekten. Was jedoch keiner mitbekam: Unter ihrer makellosen Oberfläche begann eine stille Revolution.

Die stille Revolution

Erst waren es nur einzelne Falter, die ihre Eier in der Geborgenheit der dichten Zweige ablegten. Die geschlüpften Raupen begannen ihr Werk mit der Präzision einer gut geölten Maschine. Tag für Tag fraßen sie sich durch das saftige Grün, unermüdlich und rastlos. Wo sie gewesen waren, blieben nur noch durchsichtige Gespinste und skelettierte Blätter zurück. Und als ich es bemerkte, war es schon fast zu spät: Schockiert und fassungslos stand ich vor meiner verwüsteten Hecke.

Unstillbarer Hunger

Sie vermehrten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit, diese kleinen Gesellen mit dem unstillbaren Hunger. Eine Generation folgte der nächsten, jede zahlreicher als die vorherige. Sie kannten keine Grenzen, keine natürlichen Feinde. In ihrem Rausch der Vermehrung und des Fressens schien es ihnen gleichgültig, dass sie dabei waren, ihre eigene Nahrungsquelle zu vernichten. Sie – egal, ob jung oder alt – folgten einfach nur ihrem Drang.

Das verwüstete Reich

Die einst stolze Hecke verwandelte sich in ein Gerippe aus braunen Zweigen. Was über Jahrzehnte gewachsen war, verschwand in wenigen Wochen. Doch damit nicht genug: Die Raupen krochen weiter, immer auf der Suche nach dem nächsten grünen Paradies. Wie kleine Pioniere besiedelten sie Garten um Garten, eine unaufhaltsame Armee des Hungers.

Flug in neue Welten

In der Abenddämmerung schwebten die letzten Falter über den kahlen Ästen ihres verwüsteten Reiches, der mittlerweile ganzen Gartensiedlung, die sie bereits zerstört hatten. Ihre schimmernden Flügel glänzten im letzten Sonnenlicht wie poliertes Perlmutt. Sie stiegen höher und höher, getrieben von der ewigen Suche nach neuen Welten zum Erobern. Wie winzige Luftschiffe verschwanden sie am Horizont, unbeirrt und zielstrebig – nicht ahnend, dass sie, soweit sie auch fliegen mochten, in ihrer nächsten Heimat denselben Kreislauf der Zerstörung beginnen würden.

Die Dunkelheit brach herein, und der Wind strich klagend durch die leeren Zweige der toten Hecke. Irgendwo in der Ferne wartete schon der nächste grüne Mantel darauf, abgelegt zu werden.

© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt