Ein Meisterwerk der modernen Lebensführung
Jeder kennt sicher diesen magischen Moment: Morgens aufstehen, dehnen wie ein Olympionike und mit der Überzeugung eines Motivationstrainers verkünden: »Heute räume ich endlich diese Kiste aus!« Die Sonne scheint, Vögel zwitschern Motivationshymnen, und man fühlt sich, als könnte man Berge versetzen – oder zumindest einen mittelgroßen Karton.
Doch dann… Pling! Eine Nachricht. »Nur kurz checken.« Drei Stunden später steht man in der Küche, die Gewürzschublade ist alphabetisch sortiert (wer zum Teufel braucht eigentlich Bockshornkleesamen?), das Toilettenpapier im WC-Schrank ist nach Weichheitsgrad gestapelt, und besagte Kiste grinst einen aus ihrer Ecke an wie ein schadenfroher Cartoon-Bösewicht.
Die unendliche Geschichte der unerledigten Dinge
Bei mir existiert eine Art Bermudadreieck aus Gegenständen, die in einer zeitlichen Warteschleife gefangen sind. Diese mysteriöse Ansammlung wartet seit Monaten – wer will es schon genau wissen, vielleicht sind es auch Jahre – darauf, über Internetauktionshäuser oder Kleinanzeigen ein neues Zuhause zu finden. Da wäre zum Beispiel eine Karl-May-Sammlung. »Die bringt bestimmt was ein!«, dachte ich. Doch für noch nicht einmal 5€ will sie jemand haben, die Auflage scheint wohl nicht so beliebt zu sein. Zudem habe ich alte Zinnfiguren, die selbst das Museum höflich abgelehnt hat (»Interessant, aber… künstliches Husten«), und – mein persönliches Highlight – eine Schachtel CD-Rohlinge aus der Zeit, als »Brennen« noch nichts mit Fitness zu tun hatte.
Und dann thront da diese eine Kiste. Oh, diese Kiste! Sie ist wie diese eine WhatsApp-Nachricht, die seit drei Wochen mit »später« markiert ist. Jeder hat so eine Kiste. Der ultimative Beweis dafür, dass Einstein recht hatte: Zeit ist relativ, und »später« bedeutet in Wirklichkeit »niemals«, aber die Selbstlüge hält sich hartnäckig.
Die erstaunliche Produktivität des Vermeidens
Was geschieht jedoch, wenn ich mir vornehme, diese Kiste auszusortieren? Dann entfaltet sich etwas geradezu Wundersames. Plötzlich erscheinen alle anderen Aufgaben als dringend und äußerst attraktiv. Mein Gehirn verwandelt sich in ein organisatorisches Wunderwerk! Gestern beispielsweise wollte ich endlich die Kiste angehen.
Stattdessen habe ich:
- Meine Gewürze alphabetisch sortiert (Anis steht jetzt neben Basilikum, während Zimt ganz hinten einsam auf Weihnachten wartet)
- Sämtliche Verträge geprüft und zwei davon gekündigt
- Die Steuererklärung für letztes Jahr fertiggestellt (im März!)
- Drei Monate alte E-Mails beantwortet
- Bilder an der Wand umgehängt, um dann wieder festzustellen, dass vorher doch die beste Variante war
Es ist erstaunlich, zu welchen Höchstleistungen der menschliche Geist fähig ist, wenn er verzweifelt versucht, etwas noch Unangenehmeres zu vermeiden. Der Weltfrieden könnte vermutlich gesichert werden, wenn jemand die Steuernummer auswendig lernen müsste.
Die Hierarchie des Unliebsamen
Nach jahrelanger, äußerst intensiver Selbstbeobachtung (sprich: während andere Dinge aufgeschoben wurden) entstand meine revolutionäre Theorie: Um produktiv zu sein, muss etwas vorgenommen werden, das noch weniger beliebt ist als das, was eigentlich erledigt werden sollte.
Die Steuererklärung wartet? Einfach die Kellerentrümpelung vornehmen!
Der Keller soll entrümpelt werden? Eine Grundreinigung der Dachrinne planen!
Tatsächlich steht die Dachrinnenreinigung an? Dann als Ziel setzen, die 27 ungelesenen Nutzungsbedingungen diverser Apps durchzuarbeiten oder – noch besser – eine Datensicherung des Smartphones vornehmen, bei der garantiert die Meldung »Nur noch 15 Stunden verbleibend« erscheinen wird.
Die paradoxe Lösung
Vielleicht liegt die Lösung also in einer Art »Prokrastinations-Paradoxon«: Man nehme sich bewusst vor, etwas zu tun, wovon man weiß, dass man es ohnehin aufschieben wird. Dadurch werden andere, ebenso wichtige Aufgaben wie durch Zauberhand erledigt. Die Kunst besteht darin, die richtige Aufgabe auszuwählen – unwichtig genug, um ihr Nichterledigen zu verkraften, aber unangenehm genug, um andere Dinge plötzlich attraktiv erscheinen zu lassen.
Heute könnte der Plan sein, einen ausführlichen Stammbaum der Zimmerpflanzen zu erstellen (inklusive Fotodokumentation ihrer Entwicklungsphasen). Oder die Gebrauchsanweisungen sämtlicher Elektrogeräte chronologisch zu ordnen und auf Rechtschreibfehler zu prüfen. Womöglich gelingt es dann endlich, diese verdammte Kiste auszusortieren!
Oder aber – und das ist die heimliche Befürchtung – plötzlich wird eine tiefe Leidenschaft für botanische Genealogie entdeckt und die Kiste bleibt, wo sie ist: in der Ecke, wartend, geduldig, wissend.
Vielleicht wird sie eines Tages einfach vergraben. Und dann, in einem Jahrhundert, werden ambitionierte junge Archäologen die Gegend umgraben, diese Kiste finden und ausgefeilte Theorien über ihren rituellen Zweck aufstellen. Sie werden Bücher schreiben über »Das Mysteriöse Kästchen der Frühen Digitalen Ära« und Doktortitel dafür bekommen, während ich aus dem Jenseits kichernd zusehe und denke: »Ich wollte sie wirklich ausräumen… gleich nachdem ich die Gewürze sortiert hatte.«
© Ron Vollandt | Rons famose Gedankenwelt